Hermeshof
Essay zur Ausstellung
Mohtadi Verlag, Köln 2000

Essay zu Norbert Prangenbergs Skulpturenausstellung auf dem Hermeshof, die ich kuratiert habe.
Norbert Prangenberg hat zu dieser Ausstellung eine eigene Seite ins Netz gestellt.

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Kapitel 34

2. Juli. Der Himmel ist grau, der Herbst hält Einzug, die Temperaturen liegen unter zwanzig Grad. Lange stumme Blicke gehen hinaus in den Garten. Es ist zu kalt, um die Balkontür aufzulassen. Auf den Telefondrähten, die sich den Feldweg entlangziehen und zwischen den Bäumen des Gartens sichtbar sind, hat sich ein Schwarm Vögel niedergelassen. Darunter das gelbe Meer der Weizenfelder, die Horizontlinie weder von Heuhaufen noch Scheunen noch Häusern unterbrochen. Die Bäume bewegen sich im Wind, ein Bild ohne Ton, jegliches Windgeräusch von der geschlossenen Terassentür verschluckt. Die Furchen, die den Stamm des Gingko durchziehen, erinnern an Muskelstränge. Seine Blätter, beweglich wie sie sind, zwirbeln um ihre Stiele. Plötzlich, nur um den Bruchteil einer Sekunde, kippt das Bild..., nein, es kippt nicht, es bleibt unverändert, nach wie vor bewegen sich die Blätter, die Krone neigt sich hierhin und dorthin, nichts hat sich verändert, und doch alles, als hätte ein Magier mit einer eleganten Handbewegung den Schleier von meinen Augen genommen und damit dem Bild ein bestimmtes Wissen entzogen, es befreit und der Vieldeutigkeit preisgegeben. Nicht der Wind ist es, der die Äste bewegt, sondern der Baum selbst..., für den Bruchteil einer Sekunde, von einem heftigen Schreck begleitet, gerät die Welt aus den Fugen. Welche Wohltat, als die alte Wahrnehmung wieder einrastet.

Wenig später dann, vom Schreck erholt, der willentliche Versuch, noch einmal die neue Sicht herzustellen - umsonst, das Wahrnehmungsraster gibt sich keine zweite Blöße.

Kapitel 35

Man sieht nur, was man weiß. Ohne Wissen ist man blind. Seit Duchamp mit der Erfindung des Ready-mades die Ideenkunst eröffnet und der Konzeptkunst den Weg bereitet hat, gibt es die Not des Betrachters vor dem Kunstwerk. Kunst erschließt sich nicht mehr aus der unmittelbaren Anschauung. Der Betrachter hat eine Aufbauleistung zu erbringen. Die Kunst kommt ins Gerede, es läßt sich ein Diskurs führen.

Die verstandesmäßige Annäherung an ein Kunstwerk ist meine Sache nicht - das mag eine Frage des Temperaments sein - ich will vielmehr entführt werden aus dem Fluß des Alltäglichen, ich möchte, vom Blitzschlag der unmittelbaren Evidenz getroffen, zu Boden sinken und das Hervorspringen des Wassers aus dem Stein erleben, um einmal zwei starke Bilder zu gebrauchen, ich will schwärmen, in Bann geschlagen werden, als wohnte ich einer Predigt Meister Eckharts bei, ich will, wenigstens für einen kurzen Moment, aus der Enge meiner individuellen Existenz gerissen werden. Der Rest ist Schweigen. Oder Dichtkunst, später, wenn es gelingt, Worte zu finden, Sätze zu bilden, die eine Ahnung vom Unaussprechlichen heraufbeschwören, Worte, die nicht feststellen, sondern erscheinen lassen. Und wenn ich doch einmal in eine dieser kritischen Runden, in denen hauptsächlich intelligente, sich einer vergleichenden Betrachtungsweise verdankende Urteile ausgetauscht werden, hineingerate, werde ich, wie ein Kind, das keinen Anschluß findet an die Unterhaltung Erwachsener, mehr und mehr ins Abseits gedrängt. Jawohl, das Vermögen, die Geister über sich kommen zu lassen, ist ein kindliches, es zerstört Hierarchien, nigiert die Unterschiede zwischen dem kleinen und dem großen, läßt nicht zu, daß die Zeichnung eines Unbekannten geschmälert wird durch die Erinnerung an Rembrandt oder Leonardo.

Es gibt viele kluge Menschen, die behaupten, Wirklichkeit und Sprache seien deckungsgleich, und sie haben Recht. Und doch haben sie unrecht. Denn das Netz der Worte, so eng seine Maschen auch geknüpft sein mögen, weist hier und da Löcher auf, es gibt diese Momente, wenn man auf dem falschen Fuß erwischt wird, wenn ein Anblick unter der Gürtellinie eindringt und Präsenz erfahrbar wird.

Präsenz ist, um mit Yves Bonnefoy zu sprechen, das, was die Zeichen übersteigt, was sich den Worten, der Linie, dem Pinselstrich entzieht, das Unaussprechliche, die Einheit hinter der Verschiedenheit.

Natürlich drängen sich Worte auf beim Betrachten einer Skulptur, Vergleiche mit bekannten Formen, Vasen, Fässern stellen sich ein, aber kehren wir das alles einmal aus unserem Bewußtsein, ergreifen wir die Chance, in einer Welt voller Kommunikationsmüll einmal zu schweigen, schauen wir weg, schauen wir wieder hin, schauen wir wieder weg, ein Hin- und Wegschauen, in der Hoffnung, daß sich die Worte verlieren und ein Gewahrwerden sich einstellt. Momente der Stille sind möglich, genießen wir ihre heilende Wirkung, halten wir die Figur einfach aus.


Der Hermeshof